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Projektabschluss „Gedenkstätten heute – eine gesellschaftspolitische Standortbestimmung“
Gedenkstätten stehen aktuell angesichts abnehmender gesamtgesellschaftlicher Unterstützung für die parlamentarische Demokratie unter einem besonderen öffentlichen Druck. Einerseits werden von Politik und Gesellschaft hohe Erwartungen an ihre Funktion in der historisch-politische Bildung, vor allem in den Bereichen Demokratieerziehung, Integrationsförderung und Antisemitismusprävention, gesetzt. Andererseits sorgen die zunehmende Akzeptanz und Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts und die Unterstützung autoritärer Parteien für eine zunehmende Gefährdung und Infragestellung ihrer Arbeit.
Grund genug, dass wir – fünf Studierende im 7. Semester des Fachbereichs Informationswissenschaften Felicitas Bertel (Studiengang Bibliothekswissenschaft), Anna Lektova (Studiengang Informations- und Datenmanagement), Leonie Peuker, Natalie Reum und Jannine Schramm (Studiengang Archiv) – uns von April bis November 2024 unter Anleitung von Prof. Dr. phil. Susanne Freund (Professorin für Archivwissenschaft) und Dr. Petra Haustein (Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Netzwerks Zeitgeschichte) intensiv mit der gesellschaftspolitischen Rolle und Bedeutung von Gedenkstätten im bundesweiten Überblick, sowie den Herausforderungen und Grenzen ihrer pädagogischen Arbeit auseinandergesetzt haben. Angesichts der eingangs skizzierten Ausgangslage fragten wir uns, wie eine größere Bandbreite von Zielgruppen der Gedenkstättenarbeit erreichbar wäre.
Dazu führten wir Gespräche und Interviews mit Expert*innen, versendeten Fragebögen an Gedenkstätten und führten Exkursionen vor Ort durch. Durch die Fragebogenversendung wurde es uns ermöglicht, sowohl einen Einblick in die Realität ost- als auch westdeutscher Gedenkstätten mit ihren jeweils unterschiedlichen Vorgeschichten in beiden deutschen Staaten bis 1989 zu erhalten. Bei unserer Exkursion in die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen wurde uns die Verantwortung von KZ-Gedenkstätten – auch durch die teilweise Mehrfachnutzung als Haftanstalten in der NS- und der sowjetischen Besatzungszeit – als Austragungsorte unterschiedlicher Interessen und Geschichtsnarrative der verschiedenen Opfergruppen bewusst.
Im Interview mit Dr. Sylvia de Pasquale (Leiterin der Gedenkstätten Brandenburg an der Havel) wurden uns besonders durch ihre langjährige Erfahrung die Chancen der Berücksichtigung und Integration von Menschen mit Lernschwierigkeiten bei der Ausstellungsentwicklung und -pädagogik nähergebracht. So sind Gedenkstätten und andere Institutionen der Erinnerungskultur auch Vorreiter bei der Teilhabe von ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen an der Konzeption von Lehrangeboten der historisch-politischen Bildung. Dr. Annette Leo (Historikerin und Publizistin) unterstrich dies durch ihre Aussage, dass Gedenkstätten niemals statisch sein dürften, sondern sich stets an den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Wünsche zu orientieren hätten. Dabei machte Prof. Dr. Axel Drecoll (Leiter der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen und Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten) im Interview besonders die Diskrepanz zwischen Erwartungen aus der Politik und tatsächlicher Wirksamkeit der historisch-politischen Bildung von Gedenkstätten deutlich. Diese fungierten zwar als wichtige Orte gesellschaftlicher Aushandlungen und pluralistischer Debattenkultur, hätten jedoch zu wenig Einfluss auf den Alltag und die Biografie der Besucher*innen und könnten damit keine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für den Erhalt demokratischer Werte ersetzen. Es wurde besonders transparent, dass an einzelnen Orten der Rückhalt aus der Mehrheitsgesellschaft bereits fehle und bei vielen Gedenkstätten die Sorge um die Zukunft und den Erhalt der Orte bestehe.
Insbesondere unser Fachgespräch mit Dr. phil. Sabine Moller (Leiterin des Zentrums für die Geschichte Kiels im 20. Jahrhundert) eröffnete uns wertvolle Einblicke in die Welt der sog. Citizen Science, die wir als Konsequenz unserer ausführlichen Recherchen als Impulse für die Gedenkstättenarbeit vorschlagen möchten. Frau Dr. Moller erläuterte uns die Vorteile der Einbindung von bspw. Schüler*innen und anderen interessierten Laien in Forschungs-Werkstätten zur Stadtforschung und in Ausstellungskonzeptionen; ein wertvoller Ansatz, der uns auch und gerade für die Frage, wie zunehmend mehr Interessierte für die Gedenkstättenarbeit gewonnen werden könnten, fruchtbar erscheint.
Insgesamt konnten wir uns ein konkretes Bild über das persönliche Engagement der Gedenkstättenmitarbeitenden, die Herausforderungen ihrer Arbeit und die neuen Entwicklungen in der Gedenkstättenpädagogik machen. Wir erlangten ein tieferes Verständnis für die Komplexität der Erinnerungsarbeit und die gesellschaftliche Verantwortung aller an deren Gelingen und danken allen beteiligten Institutionen und Vertreter*innen der Erinnerungslandschaft für diese wertvollen Einblicke. Ein umfassender Bericht unserer Arbeit wird im nächsten Jahr an geeigneter Stelle erscheinen.
Felicitas Bertel (Studiengang Bibliothekswissenschaft), Anna Lektova (Studiengang Informations- und Datenmanagement), Leonie Peuker, Natalie Reum und Jannine Schramm (Studiengang Archiv).